Im Juli 1995 geschah mitten in Europa ein Verbrechen von unvorstellbarem Ausmaß: In der ostbosnischen Kleinstadt Srebrenica ermordeten serbische Truppen innerhalb weniger Tage mehr als 8.000 bosnische Muslime – Männer und Jungen, systematisch getrennt, verschleppt und hingerichtet. Es war der bislang einzige von einem internationalen Gericht als Genozid anerkannte Völkermord in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
Doch Srebrenica war nicht der Anfang. Es war der tragische Kulminationspunkt eines Krieges, der aus dem Zerfall Jugoslawiens hervorging – einem Vielvölkerstaat, der nach Jahrzehnten autoritärer Einheitsführung und angespannten ethnischen Beziehungen in den 1990er-Jahren auseinanderbrach.
Der Weg in den Krieg: Die Zerschlagung Jugoslawiens
Nach dem Tod des jugoslawischen Diktators Josip Broz Tito 1980 begann der Vielvölkerstaat zu zerfallen. Nationalistische Bewegungen gewannen in den Teilrepubliken an Einfluss, allen voran in Serbien unter Slobodan Milošević. 1991 erklärten Slowenien und Kroatien ihre Unabhängigkeit, 1992 folgte Bosnien und Herzegowina – ein Staat mit einer komplexen Bevölkerungsstruktur: Bosniaken (muslimische Bosnier), Kroaten und Serben lebten hier nebeneinander.
Die Unabhängigkeit Bosniens wurde von den USA und der EU rasch anerkannt. Doch die bosnischen Serben, unterstützt von Belgrad, lehnten sie ab und begannen mit einer brutalen militärischen Kampagne zur „ethnischen Säuberung“ – mit dem Ziel, ein serbisch dominiertes Gebiet zu schaffen. Was folgte, war ein blutiger Bürgerkrieg von 1992 bis 1995, in dem hunderttausende Menschen vertrieben, gefoltert, vergewaltigt oder getötet wurden.
Srebrenica: Eine UN-Schutzzone wird zum Massengrab
Srebrenica war seit April 1993 von den Vereinten Nationen zur „Schutzzone“ erklärt worden. Doch der Begriff war trügerisch. Die dort stationierten niederländischen UN-Soldaten (Dutchbat) waren weder ausreichend bewaffnet noch befugt, die bosnischen Serben ernsthaft zu stoppen. Als die Truppen unter General Ratko Mladić im Juli 1995 vorrückten, standen sie weitgehend ungehindert vor den Toren der Stadt.
Was dann geschah, war minutiös vorbereitet: Mladić betrat Srebrenica, versprach Schutz und „Evakuierung“, während im Hintergrund bereits systematisch Tausende Männer und Jungen festgesetzt, deportiert und hingerichtet wurden. Frauen und Kinder wurden in Bussen abtransportiert. Die internationale Gemeinschaft schaute größtenteils hilflos zu.
Die Ohnmacht der UN – und das späte Eingreifen der USA
Die Rolle der Vereinten Nationen im Bosnienkrieg bleibt bis heute umstritten. Zwar hatte der UN-Sicherheitsrat Resolutionen verabschiedet und Blauhelme entsandt – doch diese waren oft schlecht ausgerüstet, bürokratisch eingeschränkt und politischen Zwängen unterworfen. Ein UN-Mandat für ein militärisches Eingreifen wurde nie erteilt – auch aufgrund von Blockaden im Sicherheitsrat, insbesondere durch Russland, das traditionell Serbien nahe steht.
Erst nach dem Massaker von Srebrenica und der Belagerung von Sarajevo kippte die öffentliche Meinung. Die NATO, angeführt von den USA, begann im August 1995 mit gezielten Luftangriffen gegen serbische Stellungen – ohne ein offizielles UN-Mandat, aber mit stillschweigender Duldung. Die militärische Überlegenheit und der internationale Druck zwangen die Kriegsparteien schließlich an den Verhandlungstisch.
Friedensschluss und Folgen: Dayton und das Tribunal
Im Dezember 1995 wurde in Dayton, Ohio (USA), das gleichnamige Friedensabkommen unterzeichnet. Bosnien-Herzegowina blieb bestehen, wurde jedoch in zwei Entitäten geteilt: die Föderation Bosnien und Herzegowina (mehrheitlich bosniakisch-kroatisch) und die Republika Srpska (mehrheitlich serbisch).
Parallel dazu wurde auf Betreiben der UN der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) in Den Haag eingerichtet. Er sollte die Hauptverantwortlichen für Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord zur Rechenschaft ziehen. Es dauerte Jahre, bis zentrale Figuren wie Slobodan Milošević (2001 verhaftet, 2006 verstorben), Radovan Karadžić (2016 zu 40 Jahren verurteilt) und Ratko Mladić (2017 wegen Völkermordes zu lebenslanger Haft verurteilt) auf der Anklagebank saßen.
Und heute?
Srebrenica bleibt weiterhin eine offene Wunde. In Bosnien wird jährlich der Opfer gedacht – viele Überreste werden bis heute in Massengräbern gefunden. Gleichzeitig wird der Genozid in Teilen der serbischen Öffentlichkeit bis heute geleugnet oder relativiert. Nationalistische Strömungen sind nach wie vor präsent, die politische Lage instabil.
(Bild: ChatGPT by Randulin)