…und der Rechtsstaat Nachhilfe aus Straßburg braucht
Es begann mit einem Stück Folie. Nicht einmal besonders dick. Kein Helm, kein Schild, kein martialisches Outfit – nur eine Overhead-Folie mit Gummiband. Benjamin Ruß, Geoinformatiker und politisch links verortet, trug sie 2015 bei einer Demonstration gegen die EZB in Frankfurt vor dem Gesicht. Drauf stand: „Smash Capitalism.“ Drunter: ein Mensch, der sich gegen Pfefferspray und Faustrecht ausrüsten wollte – mit Plastik.
Die Demonstration, zu der das Bündnis „Blockupy“ aufgerufen hatte, stand unter dem Motto „bunt, laut – aber friedlich“. Und tatsächlich: Der große Teil der Teilnehmenden hielt sich daran. Anders als manche Behörden und Gerichte, die im Nachgang offenbar weniger bunt, aber dafür sehr kreativ vorgingen.
Denn was tat die Justiz? Sie wertete die durchsichtige Plastikfolie als „Schutzwaffe“ im Sinne von § 17a des Versammlungsgesetzes. Eine Vorschrift aus den 80ern – aus der Zeit also, als man noch glaubte, dass Demonstrierende mit Fahrradhelmen die Polizei zu Fall bringen könnten. Das Amtsgericht Frankfurt verurteilte Ruß zu einer Geldstrafe. Begründung: Das Visier könne theoretisch Pfefferspray abhalten. Und wer sich schützt, könnte ja auch etwas zu verbergen haben.
Kleine Fußnote des Wahnsinns: Hätte Ruß sich die Folie nicht vors Gesicht, sondern auf den Hinterkopf gespannt, wäre sie laut Gericht keine Schutzwaffe, sondern Meinungsäußerung gewesen. Man kann sich das nicht ausdenken – außer man arbeitet im Justizapparat.
Jedenfalls blieb Ruß hartnäckig. Nachdem alle deutschen Instanzen ihn im Regen stehen ließen – inklusive Bundesverfassungsgericht –, zog er nach Straßburg vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Und siehe da: Zehn Jahre nach der Demo wird klar, wer hier eigentlich geschützt werden sollte.
Der EGMR entschied am 20. Mai 2025
Die Verurteilung war ein Verstoß gegen die Versammlungsfreiheit (Art. 11 EMRK). Die deutschen Gerichte hätten schlicht nicht überzeugend erklärt, warum eine einfache Plastikfolie eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellen soll – und warum es verhältnismäßig sei, jemanden deshalb strafrechtlich zu belangen. Denn: Wer friedlich demonstriert und sich vor Verletzungen schützt, sollte nicht in einem Strafregister landen.
Der Gerichtshof war sich einig: Friedliche Demonstrationen dürfen nicht mit Geldstrafen geahndet werden, bloß weil jemand lieber nicht blind nach Hause geht. Dass Ruß das Visier während der Demo trug, war bekannt. Aber: Niemand hat ihn vor Ort aufgefordert, es abzunehmen. Man ließ ihn laufen – und verurteilte ihn später. Nach dem Motto: Nachtreten ist auch eine Form von Einsatz.
Die Krönung: Für den ganzen juristischen Irrsinn bekommt Ruß nun über 7.000 Euro ersetzt – für Kosten und Auslagen. Und das Beste: Der EGMR erklärt, dass das Urteil auch eine Wiederaufnahme des Verfahrens ermöglichen könnte – wenn die deutschen Gerichte denn wollten. Oder könnten. Oder dürften. Die Latte liegt bekanntlich hoch, wenn man ein Urteil aus Prinzip verteidigt.
Was bleibt?
Ein Mensch mit Plastikfolie im Gesicht wird zur Bedrohung erklärt. Der Rechtsstaat zieht alle Register, um daraus eine Straftat zu konstruieren. Und Europa muss erklären, dass Selbstschutz kein Verbrechen ist, sondern – Achtung, Überraschung – ein Menschenrecht.
Benjamin Ruß hat dafür fast zehn Jahre gebraucht.
Deutschland? Nur ein bisschen Vertrauen in den Rechtsstaat verloren…
(Bildquelle: © randulin, generiert mit KI)