„Opa war kein Nazi“ – Warum wir uns die Vergangenheit schönreden

Ein Buch über die Gedächtnislücken der Nation

Wenn es um die NS-Zeit geht, gibt es in vielen Familien eine bezeichnende Redewendung, die fast schon reflexartig fällt: „Opa war kein Nazi.“ Der gleichnamige Buchtitel von Sozialpsychologe Harald Welzer wirkt auf den ersten Blick fast humorvoll – doch was sich hinter dieser scheinbar banalen Aussage verbirgt, ist ein tiefgreifendes, gesellschaftlich relevantes Phänomen: die kollektive Verdrängung und Umdeutung der Vergangenheit.

Der Autor: Harald Welzer – Sozialpsychologe und Aufklärer

Harald Welzer, geboren 1958, ist ein deutscher Sozialpsychologe und Zukunftsforscher. Er lehrt an der Universität Flensburg und ist Mitbegründer der Stiftung FUTURZWEI, die sich mit nachhaltigen Zukunftsperspektiven beschäftigt. Welzer ist bekannt für seine interdisziplinären Studien zur Erinnerungskultur, Gewaltforschung und kollektiven Verantwortung. Mit seinen Publikationen provoziert er Debatten über moralische Blindheit, sozialen Wandel und historische Verantwortung.

In „Opa war kein Nazi“ (erstmals erschienen 2002, später überarbeitet und neu aufgelegt) legt Welzer gemeinsam mit seinem Forschungsteam eine soziologisch-psychologische Langzeitstudie vor, die tief in das deutsche Gedächtnis hineinblickt – und aufzeigt, wie Erinnerungen innerhalb von Familien nicht nur tradiert, sondern auch systematisch umgedeutet werden.

Das Buch: Zwischen Interview und Enthüllung

Im Zentrum des Buches steht ein Experiment: Welzer und sein Team interviewten drei Generationen innerhalb von über 40 Familien – Großeltern, Eltern, Kinder. Die Fragestellung: Wie erinnern sich Menschen an den Nationalsozialismus – und wie erzählen sie diese Erinnerungen weiter?

Das Ergebnis war frappierend. Während viele der Großeltern offen von ihrem Leben während des Dritten Reiches sprachen – inklusive Tätigkeiten bei der Wehrmacht, der SS oder als Mitläufer in der NSDAP –, zeigten sich bereits in der Elterngeneration erste Beschönigungen, Relativierungen und das Ausklammern unbequemer Wahrheiten. In der dritten Generation, also bei den Enkeln, wurde die Familiengeschichte häufig so umgedeutet, dass der Großvater – obwohl möglicherweise bei der Gestapo tätig oder Mitläufer – als unschuldiger, apolitischer „Mitgeschleppter“ dargestellt wurde.

Die zentrale These: Das kollektive Gedächtnis in Deutschland funktioniert nach dem Prinzip der moralischen Entlastung.

Verblüffende Ergebnisse des Experiments

Welzers Forschung brachte eine Reihe von beunruhigenden Einsichten zutage:

  1. Erinnerung ist kein Fakt, sondern ein Konstrukt.
    Fast alle interviewten Familien zeichneten ein Bild, in dem der eigene Opa „eigentlich kein Nazi“ war. Selbst bei eindeutigen historischen Belegen über NS-Mitgliedschaften oder Verbrechen wurde dies oft relativiert: „Er musste ja“, „Das war damals so“, „Er hat nie jemanden umgebracht“.
  2. Die Täter werden zu Opfern – oder zu Helden.
    Statt Schuld anzuerkennen, wurden Biografien häufig so erzählt, dass der Großvater angeblich Juden versteckt habe, Flüchtlingen half oder gegen Hitler war – selbst wenn das historisch nicht belegbar war. Die Geschichten wurden romantisiert.
  3. Familienerinnerung schlägt Geschichtsbuch.
    Die Erzählungen in Familien wiegen emotional schwerer als das, was in Schulbüchern oder historischen Dokumentationen steht. Die emotionale Nähe verhindert oft eine kritische Auseinandersetzung.
  4. Der Generationen-Mythos.
    Die Enkelgeneration wuchs in einem Umfeld auf, in dem der Nationalsozialismus in der Familie zwar ein Thema war – aber eben in abgeschwächter, selektiver Form. Der Mythos vom „sauberen Opa“ bleibt trotz gesellschaftlicher Aufarbeitung bestehen.

Warum ist das wichtig?

In einer Zeit, in der der Rechtspopulismus in Europa und auch in Deutschland wieder erstarkt, wirkt „Opa war kein Nazi“aktueller denn je. Welzer zeigt auf, dass die Verarbeitung von Vergangenheit nicht automatisch mit dem Voranschreiten der Zeit geschieht. Im Gegenteil: Ohne bewusste, kritische Auseinandersetzung entsteht eine Mythenlandschaft, in der Täter zu Opfern oder gar zu Helden gemacht werden – mit fatalen Folgen für unsere Gegenwart.

„Erinnerung ist kein Archiv der Wahrheit, sondern ein Spiegel unserer Wünsche.“

– Harald Welzer

Die Studie zeigt auch, wie sehr der Nationalsozialismus nicht nur ein politisches System war, sondern ein tief verwurzelter Teil des Alltags: Viele „ganz normale Männer“ (wie der Titel eines Buches von Christopher Browning lautet) waren aktiv beteiligt. Die Behauptung, niemand habe etwas gewusst, niemand habe mitgemacht, ist schlicht unhaltbar – wird aber in den familiären Erzählungen hartnäckig aufrechterhalten.

Fazit: Ein unbequemes, aber notwendiges Buch

„Opa war kein Nazi“ ist kein einfacher Lesestoff – und das ist gut so. Das Buch konfrontiert uns mit einer unbequemen Wahrheit: Unsere Erinnerungen sind trügerisch. Sie dienen dem Selbstschutz, aber sie können auch gefährlich werden, wenn sie zur kollektiven Amnesie führen.

Welzer liefert mit diesem Werk nicht nur ein aufschlussreiches psychologisches Porträt der Nachkriegsgesellschaft, sondern auch einen wichtigen Beitrag zur Debatte um Geschichtsbewusstsein, Verantwortung und kollektive Identität. Das Buch fordert dazu auf, hinzuschauen, nachzufragen, Zweifel zuzulassen – auch (oder gerade) dann, wenn es um die eigenen Großeltern geht.

Leseempfehlung für alle, die glauben, dass Aufarbeitung „abgeschlossen“ sei.
Denn: Erinnerung endet nicht – sie verändert sich. Und sie ist eine Aufgabe, die jede Generation neu annehmen muss.


(Bild: ChatGPT by Randulin)

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