Wer heute über die Neutralität der Schweiz spricht, betritt ein ideologisch vermintes Gelände. Für viele gilt sie als heiliger Gral schweizerischer Identität – ein selbstgewähltes Prinzip, das angeblich seit Jahrhunderten bewahrt wird, wie das Rezept für Emmentaler Käse oder das Geheimnis der Banken. Doch die historische Realität ist weit weniger romantisch – und deutlich unbequemer, vor allem für jene, die Neutralität als ewiges Naturgesetz begreifen.
Mythos Eigeninitiative
Beginnen wir mit dem verbreiteten Irrglauben: Die Schweiz habe sich nach reiflicher Überlegung irgendwann dazu entschlossen, neutral zu sein. Quasi aus moralischer Überlegenheit oder tiefer humanistischer Überzeugung. Ein schöner Gedanke – aber historisch falsch.
Tatsächlich wurde der Schweiz ihre Neutralität nicht von innen heraus erarbeitet, sondern von außen auferlegt. Nicht in Bern, Zürich oder Luzern wurde sie beschlossen – sondern in Wien. Und zwar im Jahr 1815, am Ende der Napoleonischen Kriege.
Wiener Kongress 1815 – die Geburtsstunde der Neutralität
Nach den Wirren der französischen Revolution und der napoleonischen Expansion ordnete der Wiener Kongress Europa neu. Die Großmächte – darunter Großbritannien, Russland, Österreich und Preußen – wollten vor allem eins: Stabilität. Dazu brauchte es Pufferzonen zwischen den potenziellen Machtblöcken.
Die Schweiz, geografisch ideal gelegen und militärisch unbedeutend, bot sich als perfekte Pufferzone an. Sie sollte keine Bedrohung darstellen – weder für Frankreich noch für Österreich oder Preußen. Die Idee war simpel: Ein neutraler Raum in den Alpen, der niemandem gehört und jedem nützt.
Am 20. März 1815 erklärten die in Wien versammelten Mächte die „immerwährende Neutralität der Schweiz“ – und baten höflich darum, dass die Eidgenossen diese auch übernehmen mögen. Es war ein diplomatischer Euphemismus für: Das wird jetzt so gemacht, Punkt.
Die Rolle der Schweiz: Zuschauer statt Gestalter
Die Schweiz war in Wien zwar mit Delegierten vertreten, doch diese spielten in den entscheidenden Momenten kaum eine Rolle. Es war ein europäisches Machtspiel, bei dem die Eidgenossenschaft eher ein Spielball denn ein Spieler war. Der Wille zur Neutralität war damit weniger Ausdruck schweizerischer Autonomie als Folge geopolitischer Zweckmäßigkeit.
Warum das heute relevant ist
Konservative und rechtsbürgerliche Kreise stilisieren die Neutralität gerne als eigenständige, fast heilige Errungenschaft der Eidgenossenschaft. In diesem Narrativ wird die Neutralität zum moralischen Leuchtturm – unantastbar, naturgegeben, identitätsstiftend.
Aber die historischen Fakten zeigen: Neutralität war von Anfang an Realpolitik – von außen bestimmt, von innen adaptiert. Die Schweiz hat sie nicht erfunden, sondern angenommen. Erst später – im 19. und 20. Jahrhundert – wurde sie zur bewussten Strategie gemacht. Vor allem im Kalten Krieg profitierte das Land vom Image der Unparteilichkeit – wirtschaftlich, diplomatisch und politisch.
Fazit: Neutralität als konstruiertes Erbe
Die Neutralität der Schweiz ist nicht gottgegeben. Sie ist auch kein ewiger Eid, der aus der Bundesverfassung von 1291 hervorgekrochen ist. Sie ist vielmehr ein historisches Konstrukt – geboren aus den Interessen fremder Mächte, verinnerlicht von der Schweiz und im Laufe der Zeit mit Bedeutung aufgeladen.
Wer heute Neutralität als etwas Unverhandelbares, Unveränderliches darstellt, verdrängt ihre eigentliche Herkunft. Und das ist – bei aller Liebe zur Schweiz – nicht patriotisch, sondern geschichtsvergessen.
(Bildquelle: © randulin, generiert mit KI)