Der Tod kam leise.
Am 5. Oktober 2010, irgendwo in der Weite Nevadas. Steve Lee war mit Freunden auf einem lang ersehnten Roadtrip durch die USA unterwegs – auf dem Motorrad, das für ihn nicht nur Fortbewegungsmittel war, sondern Sinnbild von Freiheit. Die Gruppe hatte kurz vor dem Städtchen Mesquite eine Pause eingelegt, auf einem Pannenstreifen abseits der Interstate. Wegen einsetzendem Regen parkte die Gruppe am Straßenrand, um sich Regenkleidung anzuziehen. Ein vorbeifahrender Lastwagen geriet außer Kontrolle und schleuderte fünf abgestellte Motorräder durch die Luft, wovon eines den Sänger erschlug. Lee (geb. am 5. August 1963 in Horgen, Schweiz) verstarb noch an der Unfallstelle.
Die Nachricht erschütterte nicht nur die Schweiz. Sie zog sich durch die internationale Rockszene wie ein dunkler Riss. Steve Lee, der Mann mit der Stimme, die wie flüssiger Bernstein klang – klar, warm, unvergesslich – war gegangen. Für immer.
Ich selbst hatte das Glück, ihn ein einziges Mal zu treffen. Nur kurz. Ein freundliches „Hallo“, ein fester Händedruck, ein warmes Lächeln. Kein Rockstar-Gehabe. Nur ein Mensch. Und genau das machte ihn so besonders. Auf der Bühne war er eine Naturgewalt – daneben ein feinfühliger, fast zurückhaltender Mann, der das große Rampenlicht nie wirklich suchte. Doch wenn er sang, sang er alles und jeden an die Wand. Ich bin überzeugt: Steve Lee gehörte zu den Top Ten der besten Rocksänger aller Zeiten. Nicht nur in Europa, sondern weltweit.
Die Geburt von Gotthard – und Chris von Rohr als Mentor
Steve Lee wuchs in Lugano auf. Musik war früh ein Teil seines Lebens, aber es dauerte, bis die richtigen Menschen zusammenfanden. Mit Gitarrist Leo Leoni gründete er 1992 die Band Gotthard. Unterstützt und produziert wurde die Band in den Anfangsjahren vom Schweizer Musiker und ehemaligen Krokus-Bassisten Chris von Rohr – einer schillernden Figur, manchmal umstritten, aber ohne Zweifel ein Motor der frühen Gotthard-Jahre. Er formte mit seinem Gespür für Rock’n’Roll und kommerzielles Gespür aus einer guten Band eine großartige.
Gotthard wurde bald zur erfolgreichsten Rockband der Schweiz. In einer Zeit, in der Grunge und Eurodance dominierten, schrieben sie kompromisslos hymnische Rockmusik mit viel Seele. Die Alben „Dial Hard“, „G.“ und „Open“ waren voller Energie, Melodie und Herzblut – und machten die Band nicht nur in Europa, sondern auch in Asien, vor allem Japan, zu gefeierten Stars. Dort erreichte Gotthard mit ihren kraftvollen Live-Shows Kultstatus. Ihre Alben wurden in Japan importiert, ihre Musik in Karaoke-Bars rauf und runter gesungen.
Doch der Weg war steinig.
Schattenseiten und Krisen – und ein drohender Bankrott
Trotz Charterfolgen, Gold- und Platinplatten, war der Rock’n’Roll nie nur Glanz. In den frühen 2000ern stand die Band vor dem finanziellen Ruin. Fehlkalkulationen, Managementprobleme, der sich wandelnde Musikmarkt – all das führte dazu, dass Gotthard zeitweise mehr Schulden als Hits hatte. Die Band dachte ans Aufhören. Chris von Rohr zog sich zurück. Und intern rumorte es: kreative Differenzen, Spannungen, Entscheidungen zwischen Herz und Verstand.
Auch Steve Lees Privatleben geriet in Schieflage. Die Scheidung von seiner langjährigen Frau belastete ihn, und obwohl er nach außen hin professionell blieb, war sein Herz oft schwer. Es gibt Bilder von Konzerten, in denen er singt – aber in den Augen liegt eine Traurigkeit, die sich nicht kaschieren ließ. Vielleicht war es diese Tiefe, die seinen Gesang so berührend machte. Steve sang nicht nur Lieder – er fühlte sie. Und wir mit ihm.
Der Moment, in dem Rock Klassik küsste – mit Jon Lord
Ein Meilenstein – vielleicht der Moment seiner Karriere – war das Konzert mit Jon Lord, dem legendären Keyboarder von Deep Purple. Gemeinsam mit einem Orchester entstand ein Klangkosmos, der Rock und Klassik vereinte – nicht als Showeffekt, sondern als echtes Crossover, tief empfunden. Steve Lees Stimme schwebte über den Streichern, kämpfte mit den Pauken, versöhnte sich mit dem Piano. Es war keine Performance. Es war eine Offenbarung (siehe YouTube-Video).
Und dann: Stille. Und eine schwierige Entscheidung.
Nach seinem Tod 2010 stand Gotthard vor einem tiefen Abgrund. Die Frage war klar: Weitermachen – oder auflösen?Kein Sänger konnte Steve ersetzen. Und doch entschied sich die Band nach Monaten des Schweigens, der Trauer und unzähliger Gespräche, weiterzumachen – nicht als Ersatz, sondern als Hommage. Sie fanden in Nic Maeder einen Sänger, der mit eigener Handschrift auftritt, ohne Steve zu kopieren. Es war keine leichte Entscheidung. Aber es war die richtige.
Gotthard existiert bis heute. Mit Respekt vor dem Vergangenen und Mut zum Neuen. Sie touren, sie produzieren Alben, sie tragen die Fackel weiter. Und doch bleibt Steve Lee der Fixstern am Horizont. Derjenige, an dem sich alles misst. Der Ursprung. Die Seele.
Nachklang
Wenn ich heute alte Gotthard-Songs höre, spüre ich nicht nur Nostalgie. Ich höre einen Mann, der sich in jeden Song hineingeworfen hat – mit Haut, Stimme und Seele. Ich denke an die Hand, die ich schütteln durfte. An die Stimme, die mich durch viele Nächte begleitet hat. An einen Menschen, der in seiner Kunst aufging – und leider viel zu früh verstummte.
Doch vielleicht ist es nicht das Verstummen, an das man sich erinnert. Sondern der Nachhall.
Ein letzter Ton im Wind. Der nicht vergeht.
Danke, Steve. Für alles.
Du warst – und bleibst – einzigartig.
(Bildquelle: © randulin, generiert mit KI)